Kurzfilmblock – Sprache(n) und Geschichte(n)

Jíibie
KOL/F 2019, 24 Min, R: Laura Huertas Millán, Spanisch/Okaina mit engl. UT

Jogos Dirigidos (Directed Games)
BR 2019, 26 Min, R: Jonathas de Andrade, Portugiesisch mit engl. UT

Apiyemiyekî?
BR/F/NL/PT 2019, 28 Min, R: Portugiesisch mit engl. UT

Jíibie benennt in der indigenen Sprache Witoto das Pulver, das sich durch das Rösten, Mahlen und Sieben der Blätter des Kokastrauchs, der im Amazonasgebiet wächst, entsteht. Ein grünes, kein weißes Pulver. Jíibie – ein Wort, das perfekt Pate steht für dieses Kurzfilmprogramm. Ein Wort aus einer nur noch selten gesprochenen Sprache, eine Sprache mit ihren Geschichten und Legenden. Sprachen und ihre Geschichten, darum geht’s in allen drei Filmen, die uns jeder für sich in seine besondere Welt entführt.

In Jíibie wird zum einen der manuelle Entstehungsprozess des grünen Coca-Pulvers gezeigt, zum anderen erzählt uns eine Stimme die Legende dieses wahren und reinen, ja heiligen Coca-Genusses. Der Mund des Erzählers ist der Kamera so nah, dass man meint, die Blätteradern der Coca-Pflanze in den Falten und Rillen der Haut wiederzuentdecken. Hier geht es nicht um die Abhängigkeit von einer Droge, sondern um die wahre und pure Verwendung. In ihren Ursprüngen. Mit dem Bewusstsein von je her, dass das Pulver mit großer Umsicht zu genießen sei.

Jogos Dirigidos sprüht vor Lebensfreude. Eine Gruppe im Spiel. Wie ein Teamevent rennen sie durch die eher karge Landschaft Brasiliens, spielen verstecken auf einem Friedhof, Stuhltanz und -zuerst gedacht- pantomimisch einen Begriff nachstellen. Doch bald wird klar, hier handelt es sich um eine Gruppe Taubstummer, im Abspann werden all ihre Namen genannt. Etwa 20 Leute, jedoch nur drei Nachnamen. Dann folgt die Erklärung: In einem 900-Seelen-Dorf im Nordosten Brasiliens wohnen verhältnismäßig viele Taubstumme. Sie leben in bescheidenen Verhältnissen, neben einem knappen Zugang zu Wasser und anderen geschwächten Infrastrukturen ist auch der Zugang zur offiziellen brasilianischen Gebärdensprache Libras schwierig. Das fällt dem Zuschauer, der sich mit Gebärdensprache höchstens rudimentär auskennt, aber nicht weiter auf. Ihre selbst geschaffene Sprache scheint total verständlich. Der Film verzichtet zu großen Teilen auf Untertitel, die gibt es nur für die einzige Stimme im Film, die einer Frau vom Kamerateam gehört und die die Gebärden ins Portugiesische übersetzt. Der Film lässt in Zeitlupe Gebärden nochmals abspielen und setzt die englische Entsprechung in großen Lettern auf das Bild. Ein klar verständliches Lehrvideo. Einer vom Rest der Welt losgelösten, lebensfrohen Gemeinschaft. Auch hier geht’s um eine außergewöhnliche Sprache und die Geschichten, die mit ihr erzählt werden.

In Apiyemiyekî? betritt man die Bildwelt der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonas, die während ihrer ersten Alphabetisierungsperiode Mitte der 80er Jahre entstanden sind. Das Bild als erste Möglichkeit des Wissenaustausches und der Wissensproduktion. Die häufigste Frage, die die Mitglieder der Waimiri-Atroari während dieses Alphabetisierungsprozesses stellten, war Warum? Apiyemiyekî? Warum brachte der zivilisierte Mensch die Waimiri-Atroari um? Zum Bau des BR-174 Highway, der die Städte Manaus und Boa Vista in der Zukunft miteinander verbinden sollte, fiel die Armee in das Land dieses indigenen Volkes ein und attackierte es mit Waffen. Maschinengewehren, Granaten, Dynamit und auch mit Epidemien auslösenden chemischen Waffen. Unzählige Menschen kamen ums Leben. Der Film setzt sich mit der Militärdiktatur in Brasilien auseinander, indem er auf das Archiv von Zeichnungen des Pädagogen Egydio Schwade zurückgreift, der sich für die Rechte der Indigenen einsetzte und gemeinsam mit Doroti Schwade diese Alphabetisierungskampagne initiierte. Die über 3000 Bilder des Archivs erzählen von den schrecklichen Erlebnissen, die diesem Volk während der Militärdiktatur angetan wurden. Hier ist es also die Bildsprache, die mit maximaler Ausdruckskraft die Geschichten ihres Volkes repräsentiert.

Alle drei Filme überzeugen mit einer überaus ausdrucksstarken Sprache, die fähig ist, Geschichten weiterzugeben, auszutauschen, zu verstehen, mitzufühlen, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und zu erinnern: an unsere Ursprünge, unser Leid, unsere Freuden, unser so vielfältiges Leben.  RB