Chile 2020, 64 Min, R: Raúl Ruiz, Valeria Sarmiento, Spanisch

Das Werk El tango del viudo y su espejo deformante des chilenischen Regisseurs Raúl Ruiz (1941-2011) bildet den Eröffnungsfilm der Sektion FORUM in diesem Jahr. Ein posthumes Werk, dessen Fertigstellung seiner Lebensgefährtin und Regisseurin Valeria Sarmiento zu verdanken ist. Ruiz begann mit diesem Film 1967, konnte ihn jedoch vor ihrem Weg ins Pariser Exil 1973, nach dem Putsch Pinochets, nicht fertigstellen. Das Filmmaterial tauchte später in einem Kino in Santiago de Chile wieder auf. Die Zuschauer haben noch einmal die Gelegenheit, ein Ruizsches Werk in all seiner Originalität, Vielschichtigkeit und auch Verspieltheit zu entdecken. Den Film sehen wir, wie es der Titel schon evoziert, einmal in die eine Richtung und dann in die gespiegelte, wozu auch die Tonspur ihren bizarren Beitrag leistet (ich musste an Twin Peaks denken). El tango del viudo spielt auf ein Gedicht von Pablo Neruda aus den späten Zwanziger Jahren an. Neruda verarbeitet darin eine leidenschaftliche und aufwühlende Liebesbeziehung, die ihn schließlich zur Flucht von Rangun (heute Yangon) ins damalige Ceylon fliehen ließ. Er nannte sie Maligna, die Bösartige, die Gefährliche, in ihrer Nähe musste man um sein Leben fürchten. Jedoch ist es der Mann, der überlebt, der Witwer. Das Bild von der Leiche einer Frau bestimmen Anfang und Ende des zutiefst sinnlichen Films: die Körnigkeit alten Filmmaterials, das Schwarz-Weiß, gewaschene Wäsche, immer wieder aufkräuselnder Rauch, Perücken mit ihrer unheimlichen Konsistenz, die fröhlich-traurige Tangomusik. Bewegte und unbewegte Bilder wechseln sich ab. Wir beobachten den Witwer, der nicht mehr schlafen kann, weil er von seiner toten (malignen?) Frau heimgesucht wird. Die Kamera schlenkert umher, bleibt dicht an den Protagonisten, dem Witwer, seinem Neffen und einem befreundeten Ehepaar. Der Film ist aber auch ein schönes Zeitdokument, indem er immer wieder auf die Straßen geht und seinen Blick auf Werbeschilder oder andere Objekte richtet, die uns in die Sechziger/Siebziger Jahre entführen. Mit der Rückwärtsbewegung des Films lässt sich die Lebensphase unseres Witwers buchstäblich Revue passieren. Interessant dabei ist, dass der rückwärtige Ablauf nicht immer eindeutig als solcher zu erkennen ist, etwa beim Tangotanz zu zweit oder beim Trinken einer Tasse Kaffee, das Heben und Absetzen – hin und her, her und hin.

Es ist kein Zufall, dass das 50. FORUM mit einem Film eines überaus produktiven, langjährig schaffenden und lateinamerikanischen Regisseurs eröffnet, blickte doch auch die Ausgabe 1971 bereits auf das Filmschaffen dieses Kontinents. Die Werke bildeten die sozialen Bewegungen jener Epoche in ihrem Land ab.  Dazu zählten Voto más fusil von Helvio Soto (Chile) sowie La bandera que levantamos von Mario Jacob, Eduardo Terra (Uruguay). Herzlichen Glückwunsch zum 50. Geburtstag, Forum! RB